6. April 2016

Rezension zu "Die Birken wissen's noch" von Lars Mytting




Der Norweger Lars Mytting hat mit "Die Birken wissen's noch" eine tragische Geschichte über Familie, Liebe, Trauer und Verlust geschrieben, die beim Lesen viele Überraschungen bereit hält, zu Tränen rührt und dennoch teilweise karg und unnahbar wie die Landschaft des Settings wirkt.

Klappentext:
Auf einem entlegenen Bergbauernhof im norwegischen Gudbrandstal wächst Edvard mit seinem wortkargen Großvater Sverre auf. An seine Mutter hat er nur eine vage Erinnerung – an einen Duft, ein Gefühl von Wärme, einen blauen Rock. Denn die Eltern sind ums Leben gekommen, als Edvard drei Jahre alt war. Um ihren Tod wird ein Geheimnis gemacht, und auch um den Ort, an dem sie starben.
Zu diesem Geheimnis gehört auch das Schicksal Einars, des Bruders des Großvaters. Edvard weiß nur, dass er ein Meistertischler war und als junger Mann zur Ausbildung nach Paris ging. Dass er seine Werkstatt mitsamt dem Wald von Flammenbirken zurückließ. Dass für den Großvater ein Sarg geliefert wurde, lange vor dessen Tod – ein Stück Kunsttischlerei, wie es noch nie jemand gesehen hat –, und dass Einar womöglich gar nicht tot ist, wie es der Großvater behauptete.
Als dieser gestorben ist, macht Edvard sich auf die Suche nach dem Geheimnis seiner Familie. Es wird eine lange Reise, an deren Ende er mehr als ein Geheimnis kennt.
Die Geschichte einer verzweifelten Suche nach der Mutter, dem Vater, den eigenen Wurzeln – und einer Reise, die die Waise Edvard durch fremde Länder führt und deren Familiengeschichte ein ganzes Jahrhundert umfasst: das Jahrhundert der großen Tragödien.

Edvards Geschichte und die Geschichte seiner Familie wird auf faszinierende Art und Weise erzählt. Nicht chronologisch, sondern mit dem Ende, dem Tod des Großvaters Sverre beginnend sucht Edvard nach seinen Wurzeln und seiner Identität, findet im Nachlass des Großvaters Anhaltspunkte für eine andere Wahrheit als die ihm bisher bekannte, bekommt Hinweise vom alten Dorfpfarrer und begibt sich schließlich auf eine Suche, bei der für ihn das Ende völlig offen ist. Anhaltspunkte hat er sehr wenige, doch der ursprüngliche Faden ergibt im Laufe von Edvards Reise ein feines Gespinst an Verbindungen, die ihn zu immer neuen Geheimnissen führen. Mit unerschütterlicher Geduld und Gleichmut trotzt er Widrigkeiten und wird am Ende belohnt, mit Wissen, Liebe und Klarheit.

Durch den Sprachstil der Geschichte und durch den Umgang mit Situationen und Verwicklungen während seiner Reise spürt man beim Lesen Edvards Charakter als geduldiger, gleichmütiger aber auch stur sein Ziel verfolgender Nordländer, der sich von ein paar Widrigkeiten nicht abbringen lässt. Die Liebesgeschichte mit der jungen Britin Gwen von den Shetlandinseln, deren Familie auf rätselhafte Weise mit Edvards Familiengeheimnis verknüpft ist, entwickelt sich zunächst sehr gemächlich, zurückhaltend und überlegt, wie unter Rivalen, immer mit Blick auf das große Ziel der Suche nach des Rätsels Lösung, teils auch genau wegen dieser, so hat man den Eindruck. Doch im weiteren Verlauf entgleitet die Überlegenheit im Handeln sowohl Gwen als auch Edvard und sie verlieren beide an Boden, reiben sich aneinander auf.

Eine große Rolle im Buch spielen die beiden Weltkriege, insbesondere das Kriegsgeschehen in Frankreich in einem im Ersten Weltkrieg hart umkämpften Waldstück nahe Authuille, in dem später auch Edvards Eltern umkamen. Mit viel Respekt und Eindringlichkeit verknüpft der Autor die Geschichte mit dem Kriegsgeschehen, sucht relevante Orte und Gräberstätten auf und spürt Stimmungen nach, vermittelt einen nachhaltigen Eindruck von den Grausamkeiten des Giftgaseinsatzes in diesem Krieg.

Der Stil des Autors ist eindringlich und ruhig. Dem Leser wird Zeit gelassen, sich umzuschauen und die Landschaft zu genießen, wie den Flammenbirkenwald oder die baumlose Kargheit der Shetlandinseln, Details gemeinsam mit dem Protagonisten zu entdecken und Zusammenhänge zu entschlüsseln. Dennoch entsteht auf großartige Weise Spannung und man möchte nicht aufhören, dem Geheimnis auf die Schliche zu kommen.
Ich war traurig, als ich die letzte Zeile las, weil mir das Buch so gut gefallen hat. Die Geschichte und deren Auflösung hat mich sehr beeindruckt, und ich gebe eine unbedingte Leseempfehlung mit 5 Sternen.


Erschienen im März 2016
Insel-Verlag
gebunden 516 Seiten
ISBN 978-3-458-17673-2
24,95€

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