29. Februar 2016

Rezension zu "Nachts ist es leise in Teheran" von Shida Bayzar




Das Buch "Nachts ist es leise in Teheran" von Shida Bazyar ist die dichte und hochaktuelle Geschichte eine Iranischen Familie und deren Flucht nach Deutschland, die über vier Jahrzehnte hinweg erzählt wird. Es ist eine bewegende Geschichte über Liebe, Unterdrückung und Kampf, Verfolgung und Flucht, dem unbedingten Wunsch nach Freiheit und Heimkehr, und dem Leben als Exilant in Deutschland.
Jedes der Familienmitglieder, Vater Behsad, Mutter Nahid, Tochter Laileh und Sohn Mo bekommt von der Autorin eine eigene Stimme und erzählt jeweils etwa eine Dekade lang ab der Islamischen Revolution 1979 bis heute aus der eigenen Sichtweise die Erlebnisse und Empfindungen in dieser Zeit. Im Epilog spannt die in Deutschland geborene Tochter Tara den Bogen zu den ursprünglichen Zielen, Ideen und Träumen ihrer Eltern durch ihr internationales NGO-Engagement, die im Laufe der Jahre infolge  Vergessens und den Schwierigkeiten der Eingliederung in ein fremdes Land in den Hintergrund traten.

Klappentext:
1979. Behsad, ein junger kommunistischer Revolutionär, kämpft nach der Vertreibung des Schahs für eine neue Ordnung. Er erzählt von funkenschlagender Hoffnung, von klandestinen politischen Aktionen und davon, wie er in der literaturbesessenen Nahid die Liebe seines Lebens findet.
Zehn Jahre später nimmt uns Nahid mit in die deutschen Provinz, wohin Behsad und sie nach der Machtübernahme der Mullahs mit ihren Kindern flohen. Stunde um Stunde verbringen sie vor dem Radio und hoffen auf Neuigkeiten von den Freunden, die untertauchen mussten. Sie wollen zurückkehren, unbedingt, und suchen zugleich eine Heimat in der Fremde.
1999 reist Laleh gemeinsam mit ihrer Mutter in den Iran. Zwischen »Kafishaps«, Schönheitsritualen und Familiengeheimnissen lernt sie ein Teheran kennen, das sich nur schwer mit den Erinnerungen aus der Kindheit deckt. Ihren Bruder Mo beschäftigt ein Jahrzehnt später der Liebeskummer seines Kumpels Tobi mehr als die pseudoengagierten Demos der deutschen Studenten. Doch dann bricht die Grüne Revolution im Iran aus und stellt Mos Welt auf den Kopf.

Behsad, der Familienvater und marxistischer Kämpfer im Widerstand gegen das Schah-Regime, kommt im ersten Teil zu Wort. Er ist involviert in die Revolution 1979 im Iran, die zur Abschaffung der Schah-Regimes führte durch Zusammenarbeit aller oppositionellen Gruppierungen.
Zitat Seite 27
"Wie es nach einer Revolution eigentlich wirklich weitergeht, das habe ich noch niemanden laut fragen hören."
Das Ringen um die Vorherrschaft gewinnen letztendlich jedoch die Mullahs um Ayatollah Khomeini, Behsad und seine marxistischen Freunde werden verfolgt und eingesperrt genau wie andere Oppositionelle, die ursprünglich Verbündete unter Khomeini waren. Die Islamische Revolution mit der Machtübernahme Khomeinis spaltet Freunde und Familien, macht freie Männer und Frauen zu Verfolgten und Flüchtlingen.
Zitat Seite 30
"...weil der Glaube an einen Gott so viel einfacher ist als der Glaube an neue Ideen."

Der Abschnitt, den Nahid, Behsads Frau, erzählt, ist geprägt vom Exilleben der Familie in Deutschland. Das Warten auf Nachrichten aus dem Iran, Warten auf Briefe der Familie, und nicht zuletzt das Warten auf Khomeinis Tod, um zurückkehren zu können, bestimmen den Alltag von Nahid.
Zitat Seite 112
"Der Brief mit der Handschrift meiner Mutter, den zarten Strichen und Punkten, langsam über das Papier geleitet. Voller Worte, die sich bemühen, nicht nach Vorwürfen zu klingen, weil es eigentlich Sorgen sind. die sich nach Wärme anfühlen, solange ich sie nicht fertig gelesen und weggelegt habe."
Ein kurzer Rückblick berichtet von der Flucht aus dem Iran über die Türkei nach Deutschland.
Zitat Seite 104
"Behsad fegt alles auf, viel ist es ohnehin nicht, stellt den Besen in die Ecke, das letzte Geräusch in dieser Wohnung. Wir lassen den Blick über die Wände gleiten, unser Versteck, unser Zuhause, wenden uns zur Tür und gehen."
Die Familie muss in der Deutschen Provinz zurechtkommen, sie wollen sich dabei eigentlich nicht richtig niederzulassen, suchen aber dennoch ein Zuhause. Die Schilderungen der Behördengänge zur Anerkennung des Asylantrages, um Arbeit suchen zu können, zum Leben in Übergangslagern und Sozialunterkünften, zum Verlorensein, Losgerissenheit und zu der Traurigkeit in der Fremde berühren tief und sind hochaktuell.
Anschluss hat die Familie schließlich bei einem linksökologischem Ehepaar gefunden, doch auch deren Verhalten ist für Nahid verwirrend und entspricht nicht dem ihr bekannten. Als die beiden erzählen, sie wären von der Polizei bei einer Blockade gegen Atomkraft weggetragen worden fragt Nahid "Wohin wurdet ihr getragen?" Hier zeigt sich die Hilflosigkeit im Umgang mit Menschen, die ihr Leben in einem feindlichem System riskiert haben und umgekehrt der Umgang der Flüchtlinge mit einer friedlichen Gesellschaft.

Laileh berichtet wiederum 10 Jahr später, zur Jahrtausendwende von ihrem Besuch in der alten Heimat Iran, gemeinsam mit ihrer Mutter und mit ihrer in Deutschland geborenen Schwester Tara.
Sie erlebt das Land im Widerspruch zwischen Tradition und vorsichtiger, durch die jahrelange Herrschaft der Mullahs zerbrochener Moderne.
Zitat Seite 185
"Die Drogen kosten hier weniger als ein Liter Milch, hat mein Onkel abfällig gesagt. Das ist ein Mittel, die Leute dumm zu halten. Religion ist Opium für das Volk, aber dieses Volk braucht das Opium, um vor der Religion zu flüchten."
Laileh bestaunt die Heimat ihrer Familie, die Geborgenheit und den Zusammenhalt, den die Großfamilie bietet, ist verwirrt über den Lärm in Teheran und im Haus ihrer Großmutter, über die vielen Menschen. Andererseits lernt sie stille Momente im iranischen Leben kennen, nachts ist Teheran still, oder der Umgang mit Angehörigen von Verschwundenen und Ermordeten passiert ebenso still.
Zitat Seite 184
"Immer sind alle so freundlich zueinander und besuchen sich höflich und lassen mich mit einem zufriedenem Gefühl zurück. Aber Zufriedenheit hält nur solange an bis es Nacht wird und irgendwer alle anderen einweiht."

Der Sohn Morad (Mo) betreibt im Jahr 2009 als Student Widerstand gegen Bildungsgebühren aus stilistischen Gründen und wegen persönlicher Bindungen. Er lebt als integrierter Mensch im Deutschen Umfeld und die politischen Überzeugungen seiner Eltern interessieren ihn nicht. Er reagiert genervt, wenn Kommilitonen politische Diskussionen mit ihm führen wollen. Das ändert sich, als er die politisch engagierte Deutsch-Ägypterin Maryan kennenlernt und gemeinsam mit ihr den Ausbruch der Grünen Revolution im Netz verfolgt. Er entwickelt Verständnis für den Kampf seiner Eltern und hofft, dass die Revolution seines Vaters nach jahrelangem Warten fortgesetzt wird.
Zitat Seite 243
"...wir werden frei sein, wir werden ohne Angst in sein Heimatviertel fahren, und die ganze Nachbarschaft wird da sein, weil Behsad da ist, Daei Behsad, Amu Behsad, er wird dort sitzen mit Ihnen, er wird Tee trinken und mit ihnen reden, langsam und bedacht, wie er immer redet, und ich werde ihn zum ersten Mal sehen, von Leuten umgeben, die so sind wie er, die gemeinsam beschließen, dass es nichts aus der Vergangenheit zu bereuen gibt."

Shida Bayzar hat ein sprachgewaltiges und stilistisch eindrucksvolles Debüt verfasst. Das Besondere an ihrem Buch ist das gekonnte Spiel mit Wörtern und Sätzen, die mal kurz und knapp, mal aufgestapelt und verschachtelt zu kunstvollen Gebilden erscheinen. Es gibt wenig wörtliche Rede, kaum Absätze, dennoch ist alles gut verständlich und nachvollziehbar. Mich hat dieser ungewöhnliche Umgang mit Sprache sehr beeindruckt und gefesselt.
Die Geschichte selbst besticht neben der Aktualität des Themas Migration vor dadurch, dass sie Erlebtes ihrer Eltern schildert und man die Verbundenheit der Autorin dazu auf jeder Seite spürt.

Shida Bayzar, in Deutschland geboren und lebend mit Iranischen Wurzeln hat ein nachhaltig eindrucksvolles, dichtes, sehr bewegendes und sprachlich außergewöhnliches Buch geliefert, das von mir volle fünf Punkte erhält.




ISBN: 978-3-462-04891-9
Erschienen am: 18.02.2016
288 Seiten, gebunden

21. Februar 2016

Rezension zu "Tannie Marias Rezepte für Liebe und Mord"




Mord-Ermittlungen durch kalorienreiche und schmackhafte Bestechung, Ratschläge für schwierige Lebenslagen mit Hilfe von Kochrezepten in ihrer Kolumne der Klein-Karoo-Gazette und ausgedehnte Kochorgien zu jeder Tageszeit - das macht die Protagonistin Tannie Maria im Erstling von Sally Andrew "Tannie Marias Rezepte für Liebe und Mord" aus.
Das Buch ist der Auftakt einer Krimireihe, die in Südafrika in Ladismith in der Klein-Karoo spielt und ein amüsanter Kriminalroman gespickt mit südafrikanischen Kochrezepten und Kochtipps ist.

Inhalt:
Die Witwe Tannie Maria lebt in der Nähe von Ladismith in einem kleinen Farmerhaus, schreibt für die Klein-Karoo-Gazette eine Leserbrief-Kolumne zur bodenständiger Lebenshilfe, der sie Rezepte beifügt und die von den Lesern sehr geliebt wird, spricht mit ihren Pflanzen, ihren Hühnern und ihrem Essen und verbringt den Tag sehr gerne mit dem Kochen neuer Gerichte.
Sie ist mit sich und ihrem Leben im wesentlichen zufrieden:
"Aber vielleicht ist das Leben ein unermüdlicher Fluss, der vom Tod zur Liebe fließt und wieder zurück. Hin und her. Doch obwohl er auf diese Weise dahinströmt, gibt es viele Menschen, die nie schwimmen. So wie ich. Jedenfalls dachte ich das bisher." (Zitat Seite 7 im Buch)
Als jedoch ein verzweifelter Brief einer von ihrem Mann bedrohten Frau die Zeitung erreicht und diese kurz danach ermordet wird, beginnt Tannie Maria auf ihre ganz eigene Art gemeinsam mit den beiden anderen Journalistinnen der Zeitung zu ermitteln, wobei die Damen durch Bestechung mit Tannie Marias leckerem Essen und nächtliche Einbrüche in das Haus der Ermordeten der örtlichen Polizei und auch dem Mörder in die Quere kommen.
Die Hobby-Detektivinnen geraten dabei in große Gefahr, ermitteln aber mindestens so erfolgreich wie die Polizisten um den smarten Detective Kannemeyer, der sich lieber auf traditionelle Polizeimethoden verlässt, und schrecken auch nachdem eine der Damen entführt wird nicht vor weiteren Aktionen zurück.

Die Geschichte ist mit gemütlicher Langsamkeit und mit viel Witz, der teilweise an Slapstick grenzt, erzählt. Man erfährt viel über Tannie Marias Leben, ihren familiären Background, der manchmal unaufdringlich mit globaleren Ereignissen wie dem Tod von Nelson Mandela oder der Gewalt an Frauen in den niederländisch-reformierten Gemeinden in Südafrika verknüpft wird.
Letztere ist auch der Anlass für die Mordermittlungen der drei Damen der Klein-Karoo-Gazette, weil der Leserbrief der Ermordeten voller Verzweiflung und Hilflosigkeit gegenüber der häuslichen Gewaltsituation verfaßt war und weil Tannie Maria von ihrem verstorbenen Mann ebenso verprügelt und gedemütigt wurde.

Tannie Maria entpuppt sich als als gewiefte Detektivin im Stil von Miss Marple, die auf Kleinigkeiten Wert legt, die männliche Polizistenaugen schon mal leicht übersehen können. Trotz aller Gefahr steht ein gutes Essen, das ausgiebig zubereitet wird, bei ihr oft an erster Stelle, womit sie auch ihr Umfeld zu begeistern und zu bestechen versteht. Ohne Tupperdose gefüllt mit etwas Leckerem begibt sie sich nie in ihr Auto, um zur Zeitung oder zu Befragungen zu fahren. Dass Tannie Maria damit auch Detective Kannemeyer, der sie wegen Bedrohung ihres Lebens beschützt, zu beeindrucken weiß und dass sich daraus für sie selbst eine Liebesgeschichte mit selbigem entwickelt, bei der die ihr eigene Keuchheit und der Tanz, den beide veranstalten, beim Lesen viel Schmunzeln und Kichern auslöst, gibt dem Buch eine besondere Note.

Trotz dass mir Tannie Maria ans Herz gewachsen ist und ich die langsame und gemütliche Erzählart mit vielen Abschweifungen und Nebenbemerkungen mag, hat das Buch leider ein paar Längen und Wiederholungen, die in meinen Augen die wunderbare Geschichte zu sehr ausbremsen. Dazu gehören für mich die häufigen Wiederholungen der Zubereitung jeder einzelnen Mahlzeit der Tannie oder die sich ständig wiederholenden Beschreibungen der Zubereitungen von neuem Zwieback, wenn dieser alle ist. Anstrengend fand ich auch die ständige Erwähnung von Tupperdosen oder die ewig auf der Haut klebende Kleidung von Tannie Maria.
Schade, denn hier hätte etwas Straffung oder weniger werbewirksame Verpackung der Speisen dem Buch sehr gut getan.

Fazit:
Eine unterhaltsame und witzige Geschichte um Mord und Liebe gespickt mit kalorienreichen Kochrezepten, die man keinesfalls während einer Diät lesen sollte. Leider gibt es ein paar Längen durch Wiederholungen, die den Lesegenuss schmälern. Ich vergebe 3,5 Sterne.


480 Seiten · mit Schutzumschlag
13.8 x 21.5 cm 
EUR 19,99 · EUA 20,60
ISBN: 3-85535-003-5 
ISBN-13: 978-3-85535-003-2
Erscheinungsdatum Januar 2016 

Atrium-Verlag

20. Februar 2016

Rezension zu "Neringa oder die andere Art der Heimkehr" von Stefan Moster





Mit dem Buch "Neringa" hat der Autor Stefan Moster ein sprachgewaltiges, tiefgründiges und anspruchsvolles Buch geschaffen.

Bei einem Kinobesuch in seiner jetzigen Heimatstadt London erwachen bei dem 50jährigen deutschen namenlosen Protagonisten des Buches Zweifel an seiner Lebenseinstellung und an seinem Schaffen. Es ist eine Szene am Mont Saint-Michel, die ihn beeindruckt und dazu bringt, die Erinnerungen an seinen Großvater Jakob wieder aufleben zu lassen. Im Gegensatz zu seinem Großvater hat der Protagonist das Gefühl, der Nachwelt nichts Bleibendes und Sichtbares zu hinterlassen, obwohl er seit Jahren sehr erfolgreich in seinem Job agiert und sich über seine Arbeit definiert.
Die Kinoszene ist Anlass, Erinnerungen aus Kindheit und Jugend heraufzubeschwören und sein Leben im Vergleich zum Leben des Großvaters Jakob Flieder, dem erfolgreichen Pflasterer, der eine dauerhafte und sichtbare Hinterlassenschaft vorzuweisen hat und seine Familie ernährte, zu analysieren. Dabei strömt eine Fülle von Fragen auf den Protagonisten ein, die ihn gewaltig und unerwartet trifft.
Eine junge Frau aus Litauen, die in London seine Wohnung putzt und der er sich allmählich öffnet, zeigt ihm einen für ihn bisher unbekannten Weg in ein glückliches Leben.

Das Buch ist ausschließlich aus der Sicht des Protagonisten in der Ich-Form erzählt. Er zerpflückt in einer klaren und trotz längerer Satzkonstruktionen verständlichen, eindrucksvollen Sprache seine Erinnerungen an den Großvater Jakob und sein Schaffen. Er hat anfangs ein stark idealisiertes Bild vom Leben seines Großvaters, das durch eigene Nachforschungen und kurze Gespräche mit seiner Mutter nach und nach bröckelt.
Stilistisch sehr clever finde ich hierbei, dass der Protagonist anfangs seltsam blass und nicht greifbar, namenlos erscheint, der Großvater für mich trotz der kurzen Episoden von Anfang an eine dreidimensionale Figur namens Jakob ist. Im Fortgang des Buches bekommt der Protagonist mehr Körper, man bemerkt eine höhere Wertschätzung seiner eigenen Arbeit und seines Lebens und verfolgt gespannt seine Neugier auf Neringa.
Die junge Litauerin ruht durch ihre Zufriedenheit mit sich und dem Alltag trotz Ihrer nicht ganz einfachen Lebensumstände in sich selbst.

"Wo das Dürfen das Müssen ersetzte, bekam die Freiheit ihre Chance."
(Zitat Seite 237)
Neringa fasziniert durch Lebensweisheit und Einfachheit und hilft bei der Sinnsuche, indem sie ihn zu Orten der Vergangenheit im Leben seines Großvaters begleitet. Durch sie lernt der Protagonist eine für ihn neue und überraschende Sicht auf das Glücklichsein im Hier und Jetzt kennen und schätzen.

Das Lesen bereitet nicht zuletzt wegen der Vielschichtigkeit der Zeitebenen anspruchsvolles Vergnügen, der Anker des Lesers ist dabei immer entweder eine bestimmte Person (Großvater Jakob) oder eine bestimmte Situation in der Vergangenheit des Protagonisten. Man erlebt Szenen aus Jakobs Vergangenheit gleichermaßen wie Therapiesitzungen in München, bei denen es um die Bewältigung von Ausbrüchen und um die Aufarbeitung von Kindheitserlebnissen des Erzählers geht. Dabei verfolgt man als Leser ausschließlich die Sichtweise des Protagonisten, keiner der anderen Charaktere reflektiert das Geschehen, wodurch ich als Leser zwar alle Gedanken, Zweifel und Erinnerungen des Erzählenden teilen kann, jedoch nichts über des Wahrheitsgehalt der Geschichte weiß.

"Mit dem Begriff Heimkehr verhielt es sich umgekehrt als mit dem Wort Identität: Er passte in Jakobs Mund, doch nicht in meinen. Er hatte die Heimkehr gekannt, die eine, große aus dem Krieg, aber auch die alltägliche, nachdem er im Freien gearbeitet hatte."
(Zitat Seite 91)
Die Arbeit des Großvaters wurde im Laufe der Jahre durch den Protagonisten dermaßen glorifiziert, dass er am Ende aus einzelnen Details neue Wahrheiten für sich selbst gesponnen hat.
Der Protagonist gesteht sich und Neringa am Ende der Suche ein, dass sein Großvater zwar ein guter Pflasterer, aber keinesfalls der famose Künster gewesen ist, als den er ihn idealisiert hatte.

Fazit:
Mir hat das Buch sehr gefallen, sowohl Sprache als auch die Geschichte selbst bereiten anspruchsvolles Lesevergnügen. Ich vergebe 5 Sterne und eine klare Leseempfehlung für dieses großartige Buch.





Stefan Moster
Neringa
oder Die andere Art der Heimkehr

Roman
288 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag und Lesebändchen
Erschienen im Mare-Verlag Februar 2016
ISBN 978-3-86648-245-6





Rezension zu "Die Zelle" von Jonas Winner





Taschenbuch, Knaur TB
11.01.2016, 336 S.

ISBN: 978-3-426-51276-0


"Sie wollen mich nicht so, wie ich bin, deshalb geben sie mir die Tabletten. Damit ich mehr so werde, wie sie mich haben wollen."
Dieses verstörende Zitat des 11jährigen Sammy aus dem Psychothriller "Die Zelle" von Jonas Winner ist Ausdruck der Verwirrung, unter der der Junge leidet und die der Autor beim Leser zu stiften versteht.

Klappentext:
Sammy ist elf und gerade mit seinen Eltern nach Berlin gezogen. Im Luftschutzbunker der alten Jugendstilvilla, die die Familie in Grunewald bezogen hat, macht er eine verstörende Entdeckung. Ein vollkommen verängstigtes Mädchen, nicht viel älter als er, ist dort unten in einer Zelle eingesperrt, die man mit Gummifolie ausgekleidet hat. Nur durch einen winzigen Schlitz hindurch kann er sie sehen. Am nächsten Tag ist die Zelle leer, das Mädchen verschwunden. Und für Sammy kann es dafür eigentlich nur einen Grund geben: seinen Vater.

Das Buch ist aus der Sicht des elfjährigen Protagonisten Sammy geschrieben. Als Leser begleitet man ihn auf der albtraumhaften Suche nach dem verschwundenen Mädchen, spioniert dem Vater nach und macht dabei beängstigende Entdeckungen und fragt sich die ganze Zeit genau wie Sammy, was Wirklichkeit und was aus Albträumen und Fehlinterpretation von Ereignissen hervorgerufene Fiktion ist. Der Autor versteht es dabei hervorragend, die Unklarheiten und das Nichtwissen bis zum Ende aufrecht zu erhalten, was eine sehr spannende und abgründige Geschichte erzeugt.

Sammy's Vater ist gekonnt dargestellt als melancholische Persönlichkeit, die den Sohn Sammy liebt, jedoch große Zweifel beim Leser hervorruft in Bezug auf den Umgang mit seiner Familie. Er schreibt düstere Musik für schaurige und grausame Filme, wozu er sich in entsprechende Stimmungen versetzen muss. Sammy und der Leser hegt berechtigte Zweifel darüber, wie weit er für seine Arbeit gehen würde.
Zitat von Sammy's Vater:
"Deine Tränen, Sammy, es waren deine Tränen, wenn ich dich weinen gehört habe, war das die Musik, die ich suchte."

Die Handlung spielt sich an einem düsteren Ort ab, die alte Villa in Berlin-Grunewald und auch der Bunker im Garten der Villa sind detailreich und sehr bildhaft beschrieben, so dass beim Lesen die gruselige Stimmung und Sammy's Angst greifbar wird.

Jonas Winner versteht es sehr geschickt, scheinbar normalen Situationen an Sommertagen im hellen Sonnenschein im Garten oder gemütlichen alltäglichen familiären Zusammensein einen Anstrich des Zweifels beizufügen, so dass man sich als Leser ständig fragt, was als nächstes passieren wird.
Dabei kommt die Geschichte trotz der hohen Spannung ohne viel Blut aus, was die Bezeichnung Psychothriller rechtfertigt.
Zitat von Sammy über seinen Vater:
"Und was in seinem Kopf wütet, was in seinem Bauch schwelt, ist hundert-, tausend-mal stärker als das, was um ihn herum geschieht."

Fazit:
Das Buch ist ein gelungener, spannender Psychothriller über albtraumhaften Erlebnisse eines kleinen Jungen, bei dem man sich bis zum Schluss fragt, was Wahrheit ist und was der Fantasie des Protagonisten entspringt. Ich vergebe vier Sterne.

7. Februar 2016

Rezension zu "Eiskalte Verschwörung" von Astrid Korten





Was ist Wahrheit, was ist Lüge, was passiert tatsächlich und was ist reine Gedankenmanipulation, wer arbeitet für wen, wer ist Freund und wer Feind? Diese Fragen stellt man sich beim Lesen des extrem spannenden und verwirrenden Thrillers von Astrid Korten, bei dem es um die Erprobung und Einführung von Software zu Predictive Policing, Überwachung, Manipulation und vorsorgliche Datenspeicherung geht.
Die Autorin thematisiert in ihrem neuen Thriller Predictive Policing, sprich die Vorhersage und Verhinderung von Verbrechen auf der Grundlage von Überwachung, Datensammlung jeglicher Art sowie deren Auswertung, das Ganze verknüpft mit Mindmachine, was Gedankenmanipulation mittels optischer und Klangimpulse beinhaltet.
Beides zusammen, nämlich Predictive Policing und Mindmachine, ergibt eine extrem gefährliche und in der Hand des gefühllosen Antagonisten Janus völlig unbeherrschbare Waffe zur Manipulation von Einzelpersonen, Unternehmen und Regierungen. Dass besagter Janus noch dazu ein eiskalter Mörder und Menschenquäler und in seiner grenzenlosen Brutalität kaum zu überbieten ist, steigert die Abscheu des Lesers vor dieser Figur fast bis ins Unermessliche.

Die Protagonistin und Leiterin einer Anstalt für Schwerverbrecher Alexa Erbach ihr Mann und BKA- Beamter Tom Diavelli und deren Sohn Josh geraten ins Fadenkreuz der manipulativen Machenschaften durch Mindmachine, als Alexa an einer Versuchsreihe zur Therapie ihrer schwerkriminellen Insassen mittels Manipulation teilnimmt.

Im Laufe der Handlung sind durch geschickte Szenen- und Personenwechsel nicht nur die Opfer der Manipulation sondern auch der Leser verwirrt, was Wahrheit und was Schein ist.
Dazu kommt eine immense Verschwörung von Regierungen zum Zeck der Überwachung und Spionage, bei der man sich als Leser bis zum Schluß angstvoll fragt, was davon bereits real und was Fiktion innerhalb der Geschichte ist.

Sehr extrem ist der Handlungsstrang über die wirklich bestialischen Folterungen und Morde von Janus, dessen Identität am Ende des Buches preisgegeben wird und die für mich übrigens überraschend war. Diese Szenen haben mir beim Lesen echte Schwierigkeiten bereitet, obwohl die Brutalität von der Autorin als Stilmittel und Metapher des Missbrauchs digitaler Überwachung benutzt wird. Die dadurch geschaffene Kälte, Unmenschlichkeit und Sterilität ist sehr greifbar.

Am Ende der Geschichte, nach einem fulminanten Showdown mit schier unerträglicher Spannung werden einige Fragen geklärt, einige bleiben offen, was aber nicht wirklich störend sondern eher sehr realistisch wirkt.

Der Thriller hat mich beim Lesen extrem gefesselt durch die hohe Spannung und durch die Verwirrspiele, die erst am Ende des Buches teilweise aufgelöst werden. Man schaut während der Lektüre des Buches zum Beispiel nach Überwachungskameras, die im Alltag mittlerweile fast überall zu finden sind und fragt sich, was mit diesen Daten eigentlich alles geschieht.
Genau das bezweckt die Autorin glaube ich auch, ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, was Datenüberwachung und Manipulation heutzutage schon ausrichten können und was es in den falschen Händen bedeuten könnte.
Allerdings muss ich sagen, dass mir die Brutalität einfach etwas zu viel war, obwohl ich verstanden habe, dass sie hier keinesfalls Selbstzweck darstellt. Ich bin nicht besonders abgehärtet, wenn Folterszenen und Morde mit klinisch-genauem Blick beschrieben werden, weil das eben zur Figur des Janus passt und sicher auch diesen Charakter und sein Handeln sehr unterstreicht.

Fazit:
Das Buch ist ein spannender und thematisch hochaktueller Thriller, der mich nicht losgelassen hat. Doch darf man sich als Leser nicht vor seelischer und körperlicher Brutalität fürchten. Ich vergebe vier Sterne für diesen Thriller.

Astrid Korten " Eiskalte Verschwörung"
  • Aktuelle Ausgabe : 21.10.2015
  • Verlag : CW Niemeyer
  • ISBN: 9783827194374

6. Februar 2016

Rezension "Schwarzes Gold aus Warnemünde"




Harald Martenstein, Redakteur, Journalist und Zeit-Kolumnist und Tom Peuckert, freier Autor, Regisseur und Dokumentarfilmer, lassen die DDR in einer satirischen Utopie wieder auferstehen, indem sie das Fluchtproblem lösen, weil keiner mehr aus diesem mittlerweile reichstem Land der Welt weglaufen will.

Am 9.November 1989 verkündet Günter Schabowski nicht die Öffnung der Grenzen sondern die Entdeckung von Erdöl an der Ostseeküste der DDR, dem weltweit größten Vorkommen, welches ab sofort unverzüglich zur Verfügung steht.
Die DDR wird damit das reichste Land der Welt, Rügen wird Sperrzone und umfunktioniert zum Umschlagplatz zur weltweiten Verschiffung des Öls mit Raffinerien und Häfen, Prora wird der Sitz des Erdölkombinates. Der wahrscheinlich mächtigste Mann im Land: Erdölminister Markus Wolf, der gemeinsam mit Generalsekretär der SED Egon Krenz die Fäden zieht. Allen Bürgern der DDR geht es glänzend dank Bürgergeld und westdeutschen und österreichischen Gastarbeitern, die als Deutsche zweiter Klasse an den Grenzen Schlange stehen.

Es gibt allerdings für DDR-Bürger ein Gesinnungsbarometer mit einer Skala von A (AAA gibt es nur für hohe Parteifunktionäre) bis F (was wahrscheinlich Friedhof heißt). An der Ideologie selbst ändert sich nichts, Andersdenkende werden nach wie vor verfolgt, die Phrasen und Sprüche auf den Parteitagen der SED sind sogar noch inhaltsleerer als vor 1989.
Die Menschen werden durch den Reichtum des Erdölsozialismus nicht besser, im Gegenteil.

Der westdeutsche Martenstein und der DDR-Kritiker Peuckert schlittern durch die Schattenseiten des DDR-Imperiums und verfassen Berichte und Reportagen zu Hintergünden des Systems, machen Interviews mit bedeutenden Persönlichkeiten der DDR und stehen doch irgendwie ständig auf der Beobachtungs- und Abschussliste.

Umgesetzt ist die Geschichte als Sammlung eben dieser Reportagen und Berichte von Martenstein und Peuckert, verknüpft durch eine Rahmenhandlung zum Werdegang und zu den Erlebnissen der beiden investigativen Reporter von 1989 bis 2015.

Die Autoren nutzen das ohnehin vorhanden gewesene komödiantische Potenzial der ehemaligen DDR in ihrer Utopie voll aus. Daneben üben sie auf satirische Art Kritik an bestehenden Zuständen, was allerdings nie brachial geschieht sondern geschickt verpackt wird.
Es ist dennoch kein Buch der leisen Töne, sondern kommt laut polternd und Aufmerksamkeit heischend mit schallendem Gelächter daher.

Die Charaktere um die es in den Reportagen und Interviews geht, überschlagen sich: Karl-Theodor Guttenberg als Wirtschaftsminister, nachdem er Bürger der DDR wurde und den Ehrendoktortitel verliehen bekommt, Kati Witt als männermordende Diva, die das Dschungelcamp zusammen mit Kai Pflaume auf Kuba moderiert, um systemkritische Personen durch Herausforderungen zu läutern, Hartmut Mehdorn als Robotron-Boss, der in der Reportage das Geheimnis des Erfolges von Robotron aufdeckt, Gregor Gysi als Kulturminister in einem 99-Fragen-Interview, Gerhard Schöder als Sprecher des Zentronik-Kombinates, Helene Fischer (eigentlich ist sie die Russlanddeutsche Jelena Fischer), die als Showstar des Ferienheimes Roter Oktober auf Hiddensee gastiert, Angela Merkel, die 1989 verhaftet wird und sich später nach New York absetzt und Sahra Wagenknecht als Yogalehrerin, nachdem sie als Funktionärin abgestellt werden musste.

Ein Interview der beiden Autoren zum Buch findet sich übrigens hier:
http://www.zeit.de/2015/34/ddr-sed-oel-sozialismus

Fazit:
Sehr empfehlenswerte utopische Satire mit geschickt und witzig verpackter Kritik.


Harald Martenstein, Tom Peuckert

Schwarzes Gold aus Warnemünde

Gebunden mit Schutzumschlag, 256 Seiten

Erschienen im Aufbau Verlag August 2015

ISBN 978-3-351-03607-2