26. Mai 2017

Verstörende Geschichte




Hat ein Massenmörder eine zweite Chance verdient? Wen steht es zu, darüber zu entscheiden?
Im für mich sehr überraschenden Buch "Heute leben wir" von Emmanuelle Pirotte steht ein asozialer Menschenhasser zusammen mit einem kleinen jüdischen Mädchen im Mittelgrund der Geschichte. Eine ungewöhnliche Konstellation, die noch dazu verleitet, schreckliche Taten zu verzeihen und nach Menschlichkeit, Wärme und Vergebung bei einem Mann zu suchen, der für die SS vollkommen kaltblütig offen und verdeckt hinter feindlichen Linien mordet.

Der Roman ist angesiedelt 1944 in Belgien, wo das kleine jüdische Mädchen Renée auf der Flucht vor den Nazis dem US-Soldaten Matt anvertraut wird. Der vermeintliche Retter Matt oder besser Matthias ist jedoch Teil einer im Belgien verdeckten agierenden SS-Einheit, die bei der "Operation Greif" sowohl den Feind als auch in Belgien versteckte Juden ausrotten soll. Doch Renée bewirkt etwas bei Matthias, der sie nicht erschießt und sich ihrer sogar annimmt. Völlig gegensätzlich befinden sich nun beide auf der Flucht, Matthias, die Tötungsmaschine, der nicht erst seit der Naziherrschaft aus reiner Lust am Töten gemordet hat und Renée, das in sich gekehrte und abgeklärte Mädchen, das viel erlebte und einen faszinierend einfachen und klaren Blick auf Wesentliches hat, und finden sich versteckt auf einem belgischen Bauernhof wieder, umgeben von Nazis und Alliierten Befreiern.

Der vielschichtige und intensiv erzählte Roman hält viele Überraschungen in der Handlung und in der Vergangenheit der Hauptcharaktere bereit. Verstörend nahe steht man Matthias, der rein rational betrachtet ein hassenswerter Charakter ist, den man gerne verurteilen möchte. Aber die Autorin spielt mit dem Leser, sie verführt dazu, dass man geneigt ist, Matthias Glück für die Flucht zu wünschen. Nichts ist wie es scheint, wenig bekommt man direkt dargeboten und oft genug ist man verblüfft und fühlt sich herausgefordert, eigene Werte und ethische Normen zu Rate zu ziehen und das Dargebotene zu hinterfragen.

Nicht nur die beiden Hauptfiguren sind vielschichtig und interessant, auch die anderen Charaktere entziehen sich Schubladendenken, lassen viel Platz und Spielraum für Interpretationen und überraschen in ihrem Handeln. Wagemut und Zivilcourage finden genauso Platz wie Ängstlichkeit und Opportunismus, und interessanterweise misst sich das Handeln der Nebenfiguren meist an der mutigen und gnadenlos realistischen Renée. Mit abschätzendem Blick einer Außenstehenden scheint sie alle Ereignisse zu analysieren, egal ob sie dabei in menschliche Abgründe blickt oder kindliche Freude spürt. Matthias, der eigentlich zu allen den negativen Gegenpol geben könnte, manipuliert nicht nur die Menschen in der Geschichte, sondern auch den Leser mit seiner nahezu perfekten Maske.

Ein ganz winziger Kritikpunkt ist, dass ich sehr gerne nicht den weiteren Verlauf der Geschichte nach der Befreiung des kleinen Bauernhofes erfahren hätte. Für mich geht dadurch die psychologische Faszination der Situation auf dem belgischen Hof, die wie ein Blitzlicht aus dem großen Ganzen heraus eine Menschengruppe fokkusiert, verloren in den nachfolgenden Erklärungen und Ereignissen. Aber das ist wie immer Geschmackssache...

Es ist ein großartiges Buch, das nicht nur spannend und ergreifend eine tiefgründige Geschichte erzählt, sondern auch Zweifel an Moral und Ethik in den Raum stellt, zur Menschlichkeit und Sympathie verführt für die nicht wirklich fassbaren Hauptfigur Matthias und mir so vor Augen führt, dass ich durchaus manipulierbar bin, auch wenn ich mich sehr gerne dagegen wehren möchte.
Ich vergebe fünf Sterne und eine unbedingte Leseempfehlung.




Emmanuelle Pirotte "Heute leben wir"
Roman gebunden, 288 Seiten
Verlag: S. Fischer
ISBN 9783103972115
Erschienen im März 2017
20 €

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