9. Dezember 2017

Ungewöhnlich und Lesenswert



Sasha Marianna Salzmann hat mit dem Buch „Außer sich“ eine ungewöhnliche Familiengeschichte einer sowjetischen Aussiedlerfamilie geschrieben, die, wenn man den von der Autorin gelegten Pfad folgt, Generationenroman und faszinierende Selbst-Suche in einem ist. Stilistisch merkt man dem für mich überwältigendem Romandebüt den Theaterbackground der Hausautorin des Maxim Gorki Theaters (Berlin) an, nur zögernd und bruchstückhaft angeordnete Szenen hangeln sich an Zeitsprüngen entlang zu einem zunächst zersplittertem und erst allmählich durchschaubarem Bild, dessen Fixpunkte oft historische Ereignisse anstatt klarer Zeit- und Personenangaben sind. Lange fast atemlose Sätze spinnen Gedanken und erlauben Blicke in verschiede Richtungen, ohne restlos abzuschweifen, und kommen am Ende immer auf den Punkt, so dass man nie wirklich den Faden verliert. Das Lesen fordert allerdings, und es ist wohl besser, das Buch möglichst in einem Rutsch durchzulesen.

Zum Inhalt:
Eine Aussiedlerfamilie, die in den 1990er Jahren in einem Wohnheim in Deutschland lebt, ist nie richtig angekommen und schon innerhalb der anderen Asylanten fremd wegen der jüdischen Wurzeln. Gewalt und Diskriminierung lassen die Zwillinge Alissa und Anton das Anderssein seit der Schulzeit deutlich spüren, doch das ist in der Familie nicht neu. Bereits Großeltern und Eltern lebten Schulter an Schulter mit der Gewalt, sei es durch Repressalien an den sowjetischen Juden oder Gewalt in der Ehe durch Alkohol und Unterdrückung. Alissa und Anton, in der alten Zweizimmerwohnung am Stadtrand von Moskau, in der drei Generationen unter einem Dach lebten, komplett aufeinander fixiert und ineinander verkrallt, wenn die Eltern aufeinander losgehen, schaffen den Sprung nach Deutschland nicht, und eines Tages verschwindet Anton spurlos. Eine Postkarte aus Istanbul weist Alissa den Weg, der zur Suche nach ihrem Bruder und nach ihrer eigenen Identität wird. Ein verwanztes Sofa in der Istanbuler Wohnung des Onkels eines Freundes dient ihr in der fremden, pulsierenden und gnadenlosen Stadt als Schutzschild gegen das Leben. Istanbul wird hier nicht als lichtdurchfluteter duftender Ort an der Grenze zwischen Orient und Okzident dargestellt, sondern als dunkles und gefährlich anmutendes Rattenloch mit seltsamen und zwielichtigen Gestalten. Alissa lässt sich bei ihrer Suche nach Anton auf die Metropole ein und lässt sich gemeinsam mit dem Leser treiben im sumpfigen Strom.

Die suchende Alissa ist Rebellin und Zerrissene, sich Verkriechende zugleich. Sie ist nicht gut greifbar, kein Sympathieträger und für mich auch keine Person, mit der ich mich identifizieren kann und möchte. Je mehr sie von ihrer Familiengeschichte findet und aufspult, desto größer scheint ihre Unsicherheit und die Gefahr, sich zu verlieren, ihr Handeln und ihre Entscheidungen sind auf den ersten Blick nicht nachvollziehbar, willkürlich und unlogisch. Aber genau darum geht es für mich bei dieser Figur: ich soll sie wertungsfrei auf ihrer Suche begleiten, deren Ende zwar die Geschichte der Familie aufzeigt, bezüglich der Identitätssuche jedoch zumindest teilweise offen bleibt.

Die Normalität, mit der die familiäre Gewalt beschrieben wird, Schläge, Vergewaltigung als alltägliches Handeln emotionslos dargestellt werden, ist für den Leser durchaus grenzwertig und verabscheuungswürdig. Die Kinder Alissa und Anton haben von vornherein keine Chance, innerhalb dieser ständig schlagenden, alkoholisierten Familie ihren Platz zu finden, und das schmerzt beim Lesen, auch wenn mir völlig klar ist, dass die dargestellten Verhältnisse tatsächlichem familiären Leben in der postsowjetischen Ära in den Betonsiedlungen am Rand großer Städte entsprechen.
Die Ausgrenzung der Juden in der ehemaligen Sowjetunion, ihre Verfolgung und Deportation, die in der Stalinzeit begann, nimmt als Teil der Familiengeschichte, die in Rückblicken erzählt wird, einen wichtigen Platz im Buch ein. Mäandernd aber chronologisch, lernt man die Familie beginnend bei den Urgroßeltern kennen, auch wenn man sich die Daten selbst anhand historischer Ereignisse selbst erarbeiten muss.

Hauptaugenmerk des Romanes ist die Suche von Alissa (Ali), und so sollte man es auch zu nehmen und zu lesen wissen. Dabei spielt ihre Identität, ihre Wurzeln und auch ihre sexuelle Orientierung eine gleichwertig wichtige Rolle. 
Teils gewollt verwirrend beim Lesen und für mich am Ende dennoch ein Bild ergebend kommt die Geschichte beim Leser an, die man sich konzentriert und unvoreingenommen offen erarbeiten muss, um Gefallen am Buch zu finden.

Die ungewöhnlich erzählte Geschichte einer Verlorenen im fremden Land, die den Leser nicht an sich heran lässt, ist für mich fesselnd und fordernd zugleich, und ich empfehle es allen, die willens sind, sich auf eine distanzierte Erzählung mit richtig guter Dramaturgie und offenem Ende einzulassen.

Ich wünsche dem für mich sehr authentischen und eindringlichen Buch viele interessierte Leser.



Sasha Marianna Salzmann
Ausser Sich
Roman, gebunden, 366 Seiten
Suhrkamp Verlag September 2017
ISBN 978-3518427620
22,00 €