2. April 2018

Bittersüße Liebe




Zwei 16jährige Mädchen in einem tristen Leningrader Satellitenvorort, miteinander verknotet, verwoben und verschlungen von Geburt an, sind sich selbst genug und zugleich unzufrieden mit ihren Körpern. Die eine, Lena, mit Spitznamen wie Bandwurm oder Rechen tituliert, zu lang und schlaksig, mit Glubschaugen, und ihre Freundin Oksana, deren dicker Hintern Anlass zu großem Spott auf dem Schulhof ist, teilten schon immer alles und entdecken ihre Körper nachts auf ganz andere, heimliche und zarte Art, bis Lena für eine Model-Karierre in Shanghai gecastet wird und Oksana daraufhin im Diätwahn einer Online-Community versinkt. 

Die Mädchen treiben auseinander, und das, was Anlass zur Unzufriedenheit bot, ist plötzlich sehr gefragt. Lena stellt ihren dürren Körper Agenten und schleimigen Fotografen zur Verfügung und muss Entscheidungen treffen, wie weit sie bereit ist, für den Erfolg zu gehen. Oksana und ihre weibliche Formen, die sie mit Rezepten aus der Zeit der Leningrader Blockade abzuflachen versucht, finden zurückhaltende Bewunderung.

Beide vermissen einander schmerzlich, und auf der Suche nach Trost setzt sich Lena mit der Belagerung und der Hungersnot von Leningrad ab 1941 auseinander, zunächst auf der Suche nach irrwitzigen Diätrezepten aus Ledergürteln oder Büchern für das online-Forum, das möglichst authentische Belagerungsernährung praktiziert, und süchtig nach Likes und Kommentaren, wendet sie sich bald den erschütternden Fakten und Geschichten aus dieser Zeit zu. 

Als Lena nach drei Monaten nach Hause kommt, stellt sich unter anderem die drängende Frage, ob die Liebe und Sehnsucht der Mädchen füreinander heimlich bleibt oder nicht.

Authentisch, mit Vorsicht und Verstand, gleichzeitig mit viel Witz und einer ordentlichen Portion Zynismus zeichnet die junge Autorin Wlada Kolosowa ihre Figuren, lässt sie durchs Erwachsenwerden stolpern und bleibt dabei ganz nahe am Leben. Ernste Themen wie (Homo)Sexualität, Magersucht, Pornografie, Schönheitswahn und nicht zuletzt der vorgezeichnete triste und hoffnungslose russische Alltag einer Plattenbau-Stadt werden angesprochen, und das in einer leichtfüßigen, aber dennoch nicht oberflächlichen Sprache, jung und zugleich abgeklärt und voller Leben.

Der Roman hatte mich nach kurzer Zeit gepackt, hat mich positiv überrascht, obwohl ich anfangs kaum Erwartungen an das Buch hatte. Es ist ein sehr lesenswertes und etwas bitteres Buch über zwei Mädchen, die lieber ängstlich vor ihrer Liebe flüchten und sich falschen Idealen unterwerfen als zueinander zu stehen, ein Buch von zarter und verkannter jugendlicher Liebe, dem die für meinen Geschmack etwas übertriebene historische Faktenreiterei zur Hungersnot in Leningrad nicht wirklich geschadet hat.

Das Buch „Fliegende Hunde“ ist in meinen Augen ein anspruchsvoller Debütroman, für den ich gerne vier Sterne vergebe.



Wlada Kolosowa „Fliegende Hunde“
Roman, gebunden
224 Seiten
Ullstein Verlage 9.März 2018
ISBN 978-3-961010066
20,00 €

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